Die Vermessung der Welt - Kartographische Prozesse im Werk von Miho Kasama

Ein Text von Ina Neddermeyer​

Bei der Kartographierung, dem Vermessen von Land, wird eine Oberfläche, eine Landschaft, durch verschiedene Codierungen festgehalten, wie sie sich real dem Auge nicht eröffnet. Es ist eine Abstraktion, die die Wirklichkeit nicht eins zu eins abbildet, sondern Karten sind immer das Resultat menschlicher Zuschreibungen.

Miho Kasama verwendet in ihren Arbeiten diese Formen von visuellem Ordnungsmaterial und formt sie um. Dabei werden Farben zu Klängen, zweidimensionale Landschaftsfotografien zu dreidimensionalen Gebilden und Räume zu Messdaten. Sie fragt, wie wir den Raum, die Natur, die Wirklichkeit, die uns umgibt, wahrnehmen können und wie diese Wahrnehmung durch Prozesse des Vermessens geprägt und strukturiert ist.

J-131 (2013)

Ausgangspunkt für die Sound- und Videoinstallation J-131 sind geografische Wetterkarten, die die sich ausbreitende Strahlenverteilung nach der Atomkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 zeigen. Kasama verwendet dieses Found Footage Material, um es zu verfremden. Die ursprüngliche Landkarte wird weggelassen und es bleibt nur noch eine Welle zurück, die in wechselnden Farben und zur Endlosschleife verdichtet über den Monitor wirbelt. 

Ohne dass eine eindeutige geografische Zuordnung möglich ist, werden die Bewegungsströmungen der nuklearen Katastrophe, der unsichtbaren Bedrohung, als ikonisches Zeichen visualisiert. Denn nicht nur in Japan, sondern weltweit war der Atomunfall ein einschneidendes Ereignis, das das Vertrauen in die Beherrschbarkeit von Natur und Technik erschüttert hat.

Um den Nuklearunfall nicht nur visuell sondern auch akustisch erfahrbar zu machen, hat Kasama die Videoinstallation mit Klängen unterlegt. Jeder Farbe wurde dafür ein eigener Ton zugeordnet, dessen Tonhöhe sich mit der Bewegung der Welle verändert. Wenn die Welle steigt, wird ein höherer Ton wiedergegeben, sinkt die Welle, erklingt ein tieferer Ton. Ausgewählt wurden neutrale Töne, die die Animation direkt akustisch umsetzen, sodass die unterschiedlichen Farben, die verschiedenen Strahlungen entsprechen, gehört werden können.

Der Titel verweist nicht nur auf das radioaktive Jod, das freigesetzt wird, sobald radioaktiver Abfall produziert wird und das nach der Atomkatastrophe in Fukushima von Südkorea bis in die USA nachgewiesen wurde. Gleichermaßen wird auch auf das in der Nuklearmedizin eingesetzte Isotop J-131 Bezug genommen, das vor allem in der Radiojodtherapie im Rahmen der Behandlung von Schilddrüsenüberfunktion oder bei Schilddrüsenkrebs verwendet wird. Deutlich wird so die ambivalente Bedeutung von Atomenergie: Der Wunsch nach Kontrolle und Beherrschbarkeit, der sich mit der stets präsenten Bedrohung eines radioaktiven Fallouts, einem Kontrollverlust, überlagert. Versinnbildlicht wird diese Widersprüchlichkeit in den Wetterkarten, die die Ausbreitung von Radioaktivität dokumentieren. Die nukleare Katastrophe wird hier in Form der Karte rationalisiert und damit scheinbar kontrollierbar gemacht. Indem Kasama die geografische Karte auslässt und die Welle auf ihre ästhetische Dimension, optisch und akustisch, fokussiert, unterläuft sie diese Vorstellung.

Raumkoordinaten (2011)

Die Wirklichkeit und deren zugrundeliegende Ordnung zu erfassen und darstellen zu können, bildet seit Jahrhunderten den Ausgangspunkt für wissenschaftliche und künstlerische Recherchen. So ermöglicht die in der Renaissance entwickelte Zentralperspektive den dreidimensionalen Raum als zweidimensionale Fläche abzubilden. Im 19. Jahrhundert wurde durch die Photogrammetrie dieser Prozess umgekehrt, indem man versucht hat aus zweidimensionalen Abbildungen dreidimensionale Messdaten zu extrahieren.

Mit der Wandinstallation Raumkoordinaten verschränkt Kasama verschiedene Vermessungstechniken mit digitalen Verfahren und hinterfragt die Rationalisierung der Wahrnehmung mit den Mitteln der Perspektive. Zugleich wird der Sehprozess als konstruktivistischer Vorgang bei der Erfassung von Wirklichkeit thematisiert.

Kasama hat dafür den Ausstellungsraum abfotografiert und mit Hilfe der so entstandenen Fotografien ein 3D Modell des Raumes erstellt. Die daraus generierten Messdaten bilden ein dichtes Netz aus Zahlen, das die Ausstellungswände flächig bedeckt. Es handelt sich dabei um die jeweiligen Punktkoordinaten (x,y,z), die auf A4-Papier ausgedruckt und als Tapete angebracht wurden.

Die entstandene Rasterstruktur der Blätter greift nicht nur den Vorgang des digitalen Fotografierens auf, indem die Bildfläche in Pixel unterteilt wird, sondern verweist auch auf die Konstruktion der Zentralperspektive, bei der der dreidimensionale Raum mit Hilfe eines Fadengitters in die Zweidimensionalität überführt wird. Die Proportionen werden dabei bewahrt und können geometrisch richtig wiedergegeben werden. Analog zu diesem Prinzip funktioniert auch das menschliche Auge, das beim Sehen die dreidimensionale Umwelt durch die Pupille bündelt und danach auf die zweidimensionale Netzhaut überträgt.

detactical photography (2011)

In einer Vitrine sind in einer Gitterstruktur neun vergrößerte Luftaufnahmen von Landschaften angeordnet, deren besondere Struktur sich erst auf den zweiten Blick offenbart. Durch die Faltung des zweidimensionalen Fotopapiers werden diese in eine Reliefstruktur überführt, die die Formen der Landschaft aufgreift, zusätzlich hervorhebt, unterwandert und so eine neue künstliche Landschaft erschafft.

Der Prozess des Faltens steht dabei für die kontinuierliche Veränderung von Karten, die Miho Kasama in ihren Werken verwendet. Ist das Entfalten klassischer geografischer Karten eine notwendige Tätigkeit, um diese überhaupt erst vollständig lesbar zu machen, unterläuft die Künstlerin hier diesen Vorgang. Denn durch die Faltungen wird die Lesbarkeit der Abbildungen für automatisierte Programme eingeschränkt, da es nicht mehr möglich ist aus den Fotografien eindeutige Messdaten z.B. für militärische Zwecke zu generieren. Vielmehr findet hier eine persönlich assoziative Annäherung an die Landschaft als Karte statt, die einer objektiven Vermessung entgegenläuft und höchst subjektive Modelle erschafft.

 

Miho Kasamas Werke widmen sich auf vielfältige Weise Vermessungstechniken, die unsere Wahrnehmung der Welt prägen. Sie verwendet wissenschaftliche Ordnungssysteme als Material und visuelles Phänomen und legt deren Konstruktion offen. Dabei werden durch Neukartierungen, die Fiktion und Wirklichkeit miteinander verbinden, festgefahrene Zuschreibungen aufgebrochen und Perspektivwechsel möglich gemacht, die unsere Wahrnehmung herausfordern.